Exkurs am Frauenknast

Anekdoten aus dem Lichtenberg der ersten Hälfte des 20 Jhd.

Wir befinden uns jetzt vor dem Amtsgericht Lichtenberg. Direkt dahinter liegt der heutige Frauenknast, der in den 30er Jahren erbaut und in Betrieb genommen wurde und bis heute in Benutzung ist. Wir wollen diese Station dafür nutzen, um das Bild vom Ostberlin des frühen 20. Jahrhunderts, was schon in der Einleitung gezeichnet wurde, zu schärfen. Wir wollen so hoffentlich ein wenig zum Verständnis beitragen, auf welcher Basis der Widerstand hier zustande kommen konnte. Da wir wie bereits erwähnt selbst keine Historiker*innen sind, verwenden wir hierfür hauptsächlich den Text „Zwischen Alexanderplatz und Dorf Marzahn“ von Hans-Rainer Sandvoß, der für uns einige interessante Betrachtungen und Zeitzeug*innenberichte mitbringt.
 

 
Zur Zeiten der Weimarer Republik war es üblich, Berlin nach den 4 Himmelsrichtungen einzuteilen. Berlin-Ost hatte dabei die wohl größte Ausdehnung. Die beiden Bezirke Friedrichshain und Lichtenberg, die Berlin-Ost damals zu großen Teilen ausmachten, reichten vom östlichen Rand des Alexanderplatzes  über die Frankfurter Allee und die abgelegenen Vorstadtsiedlungen Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf sowie das Dorf Marzahn bis an die Provinz Brandenburg. Es stand fast sinnverwandt für die mächtige, Hunderttausende beschäftigende lndustriemetropole, die im Südosten bis nach Oberschöneweide reichte.
 
In diesem Beitrag versuchen wir uns auf Lichtenberg konzentrieren. Lichtenberg begann allerdings westlich nicht erst am S-Bahnring, sondern bezog bis 1938 die Umgebung der Boxhagener Straße (ab Niederbarnimstraße) mit ein. Dort lebten Tausende proletarischer Familien in kleinen Wohnungen, die wenig Licht und kaum Grün sahen. Es herrschten hier allgemein sehr bescheidene Verhältnisse. Unter der dort ansässigen Bevölkerung besaß gerade die Lichtenberger SPD zahlreiche Anhänger*innen, die der Partei vor und nach 1933 wichtige Impulse gaben. Heute zählt das Wohngebiet zu Friedrichshain.
 
Im Kontrast dazu war die gehobene Wohn- und Villengegend in Karlshorst sozial und politisch vollkommen anders zusammengesetzt. Das hier lebende national-konservative Bürger*innentum befand sich in deutlicher Abgrenzung zum „roten Osten“. Am 19. November 1929 schrieb der „Karlshorster Anzeiger“ in einer Wahlbetrachtung (Achtung NS-Propaganda):
 
„Als stärkster nationaler Ort im Bezirk steht Karlshorst da. Es ist die Hochburg des nationalen Willens im Berliner Osten. Da nützen keine Fackelumzüge der SPD mit gepumpten Mannschaften und doppelter Kapelle, da können Lastautos mit verhetzten Menschen durch die Straßen rasen! Die Fenster und Türen bleiben zu , und stolz erfüllt jeder Bürger seine Wahlpflicht zum Besten seiner Stadt, seines Vaterlandes. Macht es ebenso, ihr anderen Mitbürger aus Lichtenberg, und der rote Sumpf ist ausgerottet.“
 
Im Süden Lichtenbergs galt der am Bahnhof Ostkreuz größtenteils erhalten gebliebende Ortsteil Rummelsburg als Arbeiter*innengegend. Westlich und südlich davon erstrecken sich das Industrieviertel Alt-Stralau und die Lagerhallen des Osthafens. Es gab in Rummelsburg ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, wie Werner Gladosch später berichtete:
 
„Das alte Rummelsburg war eine Arme-Leute-Gegend. Zwischen Türrschmidt-, Kaskelstraße und Viktoriaplatz (heute Tuchollaplatz) standen beziehungsweise stehen viele alte Häuser, meist aus dem 19. Jahrhundert. Zur Hauptstraße und zum Rummelsburger See hin, an dem Fabriken, das Arbeitshaus ,Ochsenkopp‘ und das Waisenhaus lagen, fand man zahlreiche Lauben. Trotz der Spaltung der Arbeiterbewegung gab es vor 1933 auch gemeinsame Aktionen, so machten Reichsbanner und RFB das SA-Lokal ,Cafe Schloßpark‘ 1932 platt. Im Kiez ging die SPD auch schärfer gegen den NS vor als etwa im bürgerlichen Süden der Stadt. Nach der Zerschlagung der linken Organisationen fanden sich Jugendliche aus SPD und SAP zusammen, und auch Arbeitersportler bildeten kleine Gruppen in bürgerlichen Vereinen. Bei uns im alten roten Kiez von Rummelsburg blieb noch in der NS-Zeit ein gewisser Zusammenhalt. Zum Beispiel erhielt unsere Familie im Krieg durch Bauern, die Triftweg Ecke Rummelsburger Straße nahe dem Friedhof ihren Platz hatten, wiederholt heimlich Gemüse. Mein Vater Karl Gladosch (1882-1966) genoß nämlich noch aus seiner Zeit als USPD-Gemeindeverordneter (1919/20) Ansehen über Parteigrenzen hinweg. Menschen, die Unterschlupf vor Verfolgung nehmen mussten, fanden hier aufopferungsvolle Helfer.“
 
Für viele einfache Menschen führten die Wohnungsnot und das Elend der Hinterhofbehausungen dazu, sich Quartiere in Laubenkolonien außerhalb des engeren Stadtgebiets zu suchen und schlichte Lauben zu winterfesten Unterkünften auszubauen.
Wenig später sollten einige von diesen Behausungen untergetauchten Jüd*innen als illegales Quartier dienen, wovon nicht wenige Bewohner*innen der Kolonien Kenntnis hatten.
 
Gerade im Süden des eher kleinbürgerlichen Lichtenberger Ortsteils Friedrichsfelde, zwischen dem Bahnhof Rummelsburg und dem Schlosspark (heute Tierpark) Friedrichsfelde gelegen, lebten damals Hunderte von Arbeiter*innenfamilien. Margarete Kudoll (* 1904) berichtet 1996:
 
„Der südliche Teil von Friedrichsfelde – südlich vom heutigen U-Bahnhof gleichen Namens -, in dem sich inzwischen Neubaugebiete der DDR-Zeit befinden, war damals von zahlreichen Laubenkolonien geprägt. Sie siedelten auf altem Weideland, durchzogen von mehreren Wassergräben. Um die Wohnungsnot in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zu mildern, wurde Weideland der Friedrichsfelder Bauern parzelliert. Das erklärt auch Namen wie Trift- und Upstallweg sowie die Existenz von Gräben. Es war ein großes Gebiet, in dem weit über tausend Menschen überwiegend in festen Lauben lebten. Die allermeisten Bewohner entstammten der Arbeiterschaft, viele neigten zur KPD, was besonders in der Kolonie ,Gartenland‘ der Fall war. Die verschiedenen Kolonien grenzten im Osten an die Treskowallee, im Süden an die S-Bahn und endeten im Westen etwa an der Lück- Ecke Rummelsburger Straße, wo bereits die ersten Wohnhäuser Lichtenbergs standen. Die nördliche Grenze bildete die Wilhelmstraße [heute Alfred-Kowalke-Straße].“
 
Der Norden Lichtenbergs verzeichnete um Herzberg- und Siegfriedstraße eine sehr hohe Konzentration industrieller Fertigungsstätten mittlerer und größerer Betriebe wie etwa Siemens-Piania. Auch wegen seiner über hundert Schornsteine nannten die Berliner*innen den Lichtenberger Norden ihr „Ruhrgebiet“. Auch hier an Rande des Industriegeländes gab es große Laubenkolonien, wie im folgenden der Arbeitersportler Hans Rutz berichtet:
 
„Im Norden der Siegfriedstraße, jenseits der Gotlindestraße, erstreckte sich damals ein großes Laubengelände, deren Kolonien hießen Siegfriedshöhe, Müllersruh, Rotes Kreuz und nicht zuletzt die größte mit Namen Siegfriedslust, die links und rechts der Rhinstraße im Norden Lichtenbergs lag und heute noch in Resten besteht. Die Rhinstraße war damals überhaupt noch keine Straße, sie teilte lediglich die Kolonie Bielefeldt. Unsere Kolonie Siegfriedshöhe bestand aus achtzig Parzellen beziehungsweise Wohnparteien, fünfzig Prozent davon lebten als Winterbewohner in Steinhäusern. Nebenan, nur getrennt von der Industriebahn, lag die Kolonie Siegfriedslust. Viele der Arbeitslosen fanden in mehreren Fußball- und Sportvereinen eine sinnvolle Beschäftigung. Als es Mitte der dreißiger Jahre wieder Arbeit gab, stellten diese Arbeitersportler vornehmlich die Belegschaft im Nord-Lichtenberger Industriegebiet.“
 
Wir hoffen, dass wir mit diesem Kontext ein wenig Licht drauf werfen konnten, warum der Widerstand in Lichtenberg vornehmlich aus der Arbeiter*innenbewegung stammte, warum er an den unterschiedlichen Ecken Lichtenbergs ganz andere Aktionsformen zu Tage brachte, und was es mit den mittlerweile größtenteils verschwundenen Laubenkolonien auf sich hat, von denen schon mehrmals geredet wurde, die sich aber heute vermutlich schwer in diesen Dimensionen vorzustellen sind.