Margarete Steffin

Wir befinden uns jetzt vor der Geusenstraße 12, ehemals Mozartstr. 3. Hier, direkt am heutigen Tuchollaplatz, lebte Margarete Steffin. Sie wurde am 21.März 1908 im Rummelsburger Arbeiter*innenviertel geboren. Sie wuchs hier in proletarischen Verhältnissen auf, was sowohl auf die harte Arbeit der Eltern aber auch auf das damit einhergehende Klassenbewusstsein verweist. Die Schattenseiten dieser Prägung erfuhr sie mit vierzehn als sie trotz großer Begabung die Schule auf Wunsch des Vaters verlassen musste. Sie sollte ihrer Klasse nicht als „Intellektuelle“ entfremdet werden. Nach einigen Jobs begann sie zwei Jahre später eine Ausbildung als Kontoristin.

Parallel bildete sich Steffin in Abendkursen weiter und fand in der „Arbeiterkulturbewegung“ die höhere Schule, die ihr vom Vater verwehrt wurde. Sie schloss sich dem berlinweiten Arbeiter*innensportverein »Fichte« an, der der KPD nahe stand. Sie lernte Russisch und wurde Mitglied des Fichte-Sprechchors. Bald trat sie als Rezitatorin auf. 1931 spielte sie in den Roten Revuen. Solche Revuen waren seit Mitte der 20er Jahre ein wichtiger Teil der Feierkultur der kommunistischen Bewegung nach dem Vorbild der kommerziellen Musik- und Tanzrevuen. Aufgeführt von geschulten Agitprop-Gruppen der Partei sollten sie Spaß und politische Agitation miteinander verbinden. In schnell hintereinander ablaufenden kurzen Szenen wurden unterschiedliche Künste und Medien miteinander verbunden – Musik, Chanson, Akrobatik, Sport, Projektion, Film, Schauspielszenen, Ansprachen. Im Zuge ihrer Aus- und Weiterbildung im Feld der künstlerischen Agitation nahm Margarete Steffin an der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) Unterricht in Sprechtechnik bei Helene Weigel. Diese Entwicklung zeigt, inwieweit die kommunistische Bewegung in den zwanziger Jahren in der Weimarer Republik eine tatsächliche Gegenkultur bildete – mit eigenen Sportvereinen, Bildungsstätten und Kulturprogrammen. Zehntausende Sympathisant*innen erhielten so allein in Berlin die Möglichkeit einer sinnvollen Freizeitgestaltung und eines sozialen Aufstiegs über Bildung, der ihnen vom Staat systematisch verwehrt wurde. Und das nicht nur in einer gesellschaftlichen Nische, sondern unterstützt von führenden Künstler*innen der Zeit, wie eben Helene Weigel oder ihrem Mann Bertolt Brecht.

Bei den Proben zu einer Roten Revue lernte Margarete Steffin Bertolt Brecht kennen. Schon 1932 trat sie schon in Nebenrollen in Brecht-Inszenierungen im Theater am Schiffbauerdamm (heute: Berliner Ensemble) auf (Dienstmädchen bei der Urauführung von „Die Mutter“ Anfang 1932). Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sie sich für ihn zu einer unverzichtbaren Mitarbeiterin des bekannten Theatermachers. Da diese Beziehung zu Brecht jedoch auch eine romantische Seite hatte, wurde Steffin in der Vergangenheit oft darauf reduziert. Doch das wird ihrer Bedeutung für die Arbeit mit Brecht sowie ihrem eigenen künstlerischen Schaffen nicht gerecht. Margarete Steffin war ungenannte Co-Autorin einiger seiner Werke. Sie führte fast die gesamte Korrespondenz mit Verlagen und Freund*innen, ordnete Brechts Gedichte, schrieb dessen Texte ins Reine und war hier auch kritische Gutachterin. Allerdings ist es bei Brechts Werken schwierig, Steffins Anteil zu erkennen, da kollektiv gearbeitet wurde und Brecht sowie spätere Verleger ihren Namen oft nicht mehr erwähnten. Das schriftstellerische Werk Margarete Steffins und ihr Einfluss auf das Schaffen der „Brecht-Werkstatt“ wurde erst ab den 1960er Jahren bekannt und entsprechend gewürdigt.

Die persönliche und künstlerische Beziehung zwischen Margarete Steffin und Bertolt Brecht war so eng, dass sie Mitte 1933 Nazi-Deutschland verließ mit ihm zu Helene Weigel ins dänische Exil ging. So konnten sie als bekennende und bekannte Sympathisant*innen der kommunistischen Partei für‘s Erste der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entgehen. Trotz der Sicherheit war die Exil-Situation extrem belastend. Innerhalb weniger Monate waren Arbeitszusammenhänge, künstlerische Netzwerke und Freundschaften zerbrochen. Menschen, die zuvor eng miteinander verbunden waren, waren über ganz Europa verteilt. Dazu die ungewissen Zukunftsaussichten – wie kann ich Geld verdienen, wie lange werden meine Papiere noch anerkannt. Nicht wenige zerbrachen an diesem Druck. Vor diesem Hintergrund war Brecht auch ein wichtiger Ansprechpartner für Künstler*innen und Intellektuelle im Exil, die sich vom ihm Rat oder Unterstützung erhofften. Die Korrespondenzen liefen zumeist per Brief und füllen heute mehrere tausend Seiten. Es war nicht zuletzt Margarete Steffin, die in diesem Chaos den Durchblick behielt, die Briefe sammelte, kategorisierte und bei der Beantwortung half. Sie war das Rückgrat der Brecht‘schen Arbeit im Exil. Um im Alltag zu bestehen, lernte sie sogar Dänisch und eignete sich Grundlagen in anderen nordischen Sprachen an. Zudem heiratete sie 1936 zum Schein einen dänischen Journalisten, um über die Staatsbürgerschaft abgesichert zu sein.

Dieses krasse Engagement beim Zusammenhalten der Fäden im Exil erklärt auch, warum wir an Margarete Steffin heute bei unserem Rundgang zu „Lichtenberger Frauen im Widerstand“ erinnern wollen. Sie war es, die mit ihrer Arbeit dafür sorgte, dass das künstlerische und persönliche Netzwerk um Brecht nicht vollständig zusammenbrach. So konnte einerseits Menschen, die als Gegner*innen der Nationalsozialismus im Exil in Not geraten waren geholfen werden – z.B. durch Vermittlung von Kontakten. Zugleich konnte Brecht aber auch seine eigene politische Arbeit als Künstler auf diese Weise fortführen. Er war schließlich Dramatiker und Theater-Regisseur und während Texte im Exil mit einigen Schwierigkeiten veröffentlicht werden konnten, war die Durchführung von Theateraufführungen nahezu unmöglich.

Dennoch gelang es, zwei Brecht-Stücke zur Aufführung zu bringen – aber nicht in Dänemark, sondern in Paris. Dabei handelte es sich um „Die Gewehre der Frau Carrar“ (1937) – einer Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg – und „99%“, aus dem später „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ werden sollte (1938). Beides sind dezidiert „antifaschistischen Dramen“, die zur Stärkung des Widerstandes gegen den spanischen und deutschen Faschismus geschrieben wurden. Sie sollten der Emigration Mut machen und verbanden so künstlerische Ambition mit politischem Anspruch. Sie entstanden unter erheblicher Mitwirkung von Margarete Steffin. 99% war schon in seiner Entstehung eine Mammut-Aufgabe. Brecht wollte in einer Montage von Einzelszenen zeigen, dass Terror und Angst keine andauernde Basis für den Nationalsozialismus bilden können. Dafür sammelte er zusammen mit Steffin zahllose Zeitungsschnipsel. Zuletzt füllte die Sammlung zehn Aktenordner. Auch die Koordination der Aufführung von Dänemark nach Frankreich war ein enormer Aufwand, da alle Absprachen per Brief getroffen werden mussten. Im Endeffekt war das Projekt trotz vieler Missverständnisse ein voller Erfolg. Walter Benjamin sah die Aufführung der Szenen aus 99% als Anfang eines neuen politischen Theaters in der Emigration, dass dem Publikum gemäß des epischen Theaters Brechts die Einsicht in die eigene Situation erlaubt. Ohne Margarete Steffin wäre das nicht möglich gewesen. An ihrer Arbeit zeigt sich, die Vielfalt des antifaschistischen Kampfes. Dieser kann eben auch die Form von einem künstlerischen Widerstand annehmen, um auf diese Weise das Bewusstsein der Menschen zu erreichen und sie zu bestärken – vom Roten Arbeiter*innen-Chor über das Schauspiel bei kritischen Theaterstücken und die Mitarbeit an ihnen bis zur Organisation politischer Theaterabende im Exil über den halben Kontinent hinweg.

1939 floh die Gruppe um Brecht über Schweden und Finnland in die Sowjetunion, um von hier in die USA zu emigrieren. Magarete Steffin war allerdings seit vielen Jahren an Tuberkulose erkrankt und die Symptome nahmen kurz vor der Abreise aus der Sowjetunion stark zu. Sie konnte die Reise nicht antreten und blieb zurück. Am 4. Juni 1941 verstarb sie sie in Moskau. Mit ihrem Tod endete auch eine künstlerisch hochproduktive Phase von Brecht, der ohne ihre persönliche und professionelle Unterstützung teilweise unfähig war zu arbeiten.

Steffins eigene Arbeiten, ihre Gedichte, autobiographisch geprägte Schilderungen aus der Arbeiter*innenwelt und vor allem die Sonette sind erst in den letzten Jahrzehnten einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Ihre Kurzprosa handelt hauptsächlich von der proletarischen Kindheit und Jugend und anderen eigenen Erlebnissen, wie der Sanatoriumswelt oder dem dänischen Exil. Sie hat auch zwei Dramen für Kinder geschrieben und übersetzte auch Werke russischer, dänischer, norwegischer, und schwedischer Autor*innen. Von alldem ist fast nichts zu ihren Lebzeiten erschienen.
Seit Juni 2011 erinnerte eine Gedenktafel an ihrem Geburtshaus an Margarete Steffin. Parallel erhielt die Volkshochschule in der Paul-Junius-Straße ihren Namen. Wo die Tafel aktuell hängt ist uns bislang nicht gelungen herauszufinden.