Ilse Kirchner

Ilse Kirchner wurden am 16.08.1918 geboren und zog 1933 mit ihrer Familie aus Thüringen nach Berlin Lichtenberg. Ihr Vater Oskar Debus hatte eine Stelle als Abteilungsleiter in der Berliner Konsumgenossenschaft in der Josef-Orlopp-Straße bekommen, er und seine Familie zogen hier ein.
Hier Im Haus der wohnten vorwiegend Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, die sich sogleich erfolgreich für die Freilassung von Ilses Vater einsetzten, als dieser 1933 aufgrund seiner langjährigen SPD-Mitgliedschaft von SA-Sturmtrupps verschleppt und im KZ Oranienburg misshandelt wurde. Kurze Zeit später wurden auf Druck des NS-Staates viele Filialen der Konsumgenossenschaft privatisiert. Ilses Vater wurde wegen „Aufwiegelung der Arbeiter“ und „politischer Unzuverlässigkeit” vom Staatskommissar gekündigt und erhielt das Verbot, seine ehemalige Arbeitsstätte weiterhin zu betreten.
1936 gründete sich die sogenannte Zehn-Punkte-Gruppe, auch deutsche Volks/- bzw. Einheitsfront-Gruppe genannt. Ilse und ihr Vater waren Gründungsmitglieder und stellten ihre Wohnung als Treffpunkt für die Treffen zur Verfügung. Die Gruppe setzte sich zu großen Teilen aus ehemaligen USPD Mitgliedern zusammen. Ilse erinnerte sich 1995 daran:

„…Der Kreis traf sich zweimal pro Woche bei uns in Lichtenberg, diskutierte, trank Kaffee und aß Kuchen. Aus den Erörterungen entwickelte sich das Zehn-Punkte-Programm. Brill schrieb es handschriftlich nieder. Ich tippte es ab, und der junge Willi Urban (Friedrichsfelde, Solzstraße 13) vervielfältigte den Text.“

Das Programm beinhaltete folgende Punkte:

  • Sturz und Vernichtung der Diktatur
  • Recht und Gerechtigkeit
  • Freiheitsrechte
  • Demokratische Selbstregierung
  • Einstellung des Wettrüstens
  • Frieden & Verständigung mit allen Völkern
  • Beseitigung der Not und Arbeitslosigkeit
  • Inflationsbekämpfung und 40-Stunden-Woche
  • Aufhebung der Zwangswirtschaft, Einziehung des Großgrundbesitzes
  • Verstaatlichung wichtiger Industriezweige sowie der Banken

Der 10-Punkte-Plan erreichte Oppositionelle über „Geschäftsreisen“ in Hamburg, Thüringen, im Reinland und im Ruhrgebiet, wo Oskar Debus überall Freund*innen hatte. in Berlin wurden vor allem alte Verbindungen aus Partei und Gewerkschaftsarbeit, unterdrückte Arbeiter*innenkulturbewegungen wie Sportvereine oder Musikgruppen erreicht. Ilse Debus war maßgeblich daran beteiligt Nachrichten zwischen KPD-Funktionär*innen auszutauschen und so Verbindungen herzustellen und Treffen bei sich zuhause zu organisieren. So traf sie zweimal wöchentlich an der Leipziger Straße Ecke Friedrichstraße einen Mann auf der Straße, dem sie ein Kuvert übergab. Erst nach 1945 erkannte sie diesen Mann: es war Robert Uhrig von der Berliner KPD Führung. Zudem vermittelte sie Begegnungen zwischen Kurt Schmidt von der marxistischen Gruppe „Neu Beginnen“ mit der KPD Beauftragten Elli Schmidt im Haus „Vaterland“, einem großen Gaststättenbetrieb und Vergnügungspalast am Potsdamer Platz.

Die 10-Punkte-Gruppe flog am 20. September 1938 auf oder wurde verraten. Ilse sprach später so davon:

„Mein Vater wurde in der Wohnung verhaftet. Ich am selben Tag im Betrieb. Beim Verhör hielt ich mich an seinen Rat: ,Leugne alles ab, denn gibst du erst etwas zu, erpressen sie immer mehr.´ Ich machte auf naiv und dumm, wurde gebufft und mit der Pistole bedroht, man misstraute mir. Andererseits waren sie so dumm, bei der Durchsuchung unserer Lichtenberger Wohnung eine Schusswaffe und viel illegales Material zu übersehen. Man gab sich mit dem wenigen zufrieden, was man fand, es reichte ihnen wohl. Dabei waren im Kachelofen (in der Küche) unter einem Wachstuch und im Oleandertopf in Ölpapier unter der Erde Untergrundhandschriften; in der Standuhr lag ein Stapel mit der 10-Punkte-Erklärung, und das Geheimfach in Vaters Schreibtisch verbarg die Waffe und Munition.“

llse kam frei. Als man ihr die Brieftasche ihres Vaters aushändigte, waren auch zwei blutverschmierte Taschentücher dabei. Der Prozess gegen Oskar Debus wurde so schnell durchgezogen, dass Ilse bei der Gerichtsverhandlung zu spät erschien. Ihr Vater wurde am 14. Juli 1939 mit weiteren Genoss*innen der 10-Punkte-Gruppe verurteilt, für ihn bedeutete dies 5 Jahre Zuchthaus, in dem er geschwächt aufgrund der Folter am 17. Dezember 1942 starb. An die Zeit erinnerte sich Ilse später so:

„Anfänglich durfte ich meinen Vater noch alle zwei Monate in Brandenburg besuchen, später nur noch vierteljährlich zehn Minuten. Briefe bestanden zuletzt nur noch aus einer Seite. Im Dezember 1942 konnte ich ihm noch von der Kriegswende in Stalingrad Nachricht geben, doch waren die Gefangenen durch das Abhören von `Feindsendern` darüber bereits informiert. Vaters Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr. Schließlich empfing ich die erschütternde Nachricht seines Todes. Es gelang mir sogar nach dem deprimierenden Erhalt seiner letzten Sachen, die Urne ausgehändigt zu bekommen. Auf der Beerdigung in Friedrichsfelde, bei der einhundert Menschen teilnahmen, sprach der ehemalige Lichtenberger SPD-Stadtrat Willi Klüsener in ergreifenden Worten vom Verstorbenen. Klüsener wurde ein oder zwei Jahre später (vermutlich wegen seiner offenen und kritischen Sprache) selbst eingesperrt und verurteilt. Er kam im KZ Bergen-Belsen ums Leben.“

Ab Herbst 1938 war Ilse Mitglied der illegale SAP-Gruppe um Karl Baier, die zu politischen Gesprächen zusammenkam, sich mit marxistischen Schulungen befasste und an Hilfsaktionen für jüdischen Mitbürger*innen und andere Verfolgte beteiligt war. Hier lernte sie Georg Dünninghaus aus der Saefkow-Gruppe kennen, für den sie ab Frühjahr 1944 ein Quartier stellte, als dieser untertauchen musste. 1945 trat sie der KPD bei und war später in verschiedenen Funktionen im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR tätig.